(Eine Auseinandersetzung mit Detlev
Fehling)[1]
Detlev Fehling kann wohl als derjenige
unter den Autoren, die der Anaximander-Überlieferung skeptisch gegenüberstehen,
betrachtet werden, welcher seinen diesbezüglichen Standpunkt am deutlichsten
hat hervortreten lassen.[2] Er hat mehrmals die These
vertreten, “daß wir die (teilweise widersprüchlichen) Angaben des Aristoteles
über Anaximanders Weltgebäude ignorieren müssen” (MuW, S.153).[3] Er behauptet, daß Anaximander nicht
der Platz der beherrschenden Gestalt unter den Vorsokratikern überhaupt gebühre
(PGW, S.225). Mit Blick auf die Doxographie über Anaximander sagt er: “Ich
glaube also, daß das Weltbild Anaximanders von der Doxographie falsch referiert
wird”, und spezieller: “Es ist noch niemanden gelungen, sich den Himmel nach
diesen Angaben anschaulich zu machen oder verständlich zu machen, wie er auf
diese phantastische Idee gekommen sein könnte” (PGW, S.222, bzw. MuW, S.153). Ich
möchte vielmehr die gegenläufigen Thesen vertreten: Daß nämlich die Doxographie
über Anaximanders Auffassung des Universums bei genauerer Lektüre ein
sinnvolles Ganzes ergebe, daß es möglich sei, seine kosmologische Auffassungen
zu visualisieren, und daß er nicht nur der größte der Vorsokratikern, sondern
sogar einer der größten Geister der Geschichte gewesen sei.[4]
Ich halte es daher für angebracht, mich
etwas ausführlicher mit Fehlings Argumenten auseinanderzusetzen - schon
deswegen, weil ich das Werk Fehlings sehr hoch einschätze. Es geht mir dabei
nicht nur um die Stellung Anaximanders im Rahmen der frühgriechischen
Philosophiegeschichte, sondern auch um die Entstehung des vor-aristotelischen
griechischen Weltmodells, oder sogar um die Entstehung des Weltbildes unserer
westlichen Zivilisation überhaupt. Beiläufig wird diese Diskussion Anlaß geben
zu einigen methodologischen Verdeutlichungen angesichts des Studiums der
Präsokratiker und des frühen Weltbildes.
1.
Das ‘primitive’ Weltbild: Flachdach oder Himmelskuppel?
Fehling beschreibt das frühhistorische
oder ‘primitive’ (d.h. das vor-aristotelische) Weltbild wie folgt: “Die
Erdoberfläche kreisförmig, der Himmel als Flachdach darüber” (PGW, S.195), “ein
Weltbild ohne Himmelskugel” (PGW, S.196). Die ebene Gestalt der Erdoberfläche
ist, wie er treffend feststellt, “für den Menschen zunächst einmal eine
elementare Selbstverständlichkeit, nicht eine Theorie, zu der Alternativen
denkbar sind (PGW, S.205). Er betont, daß in diesem Weltbild “gilt (…), daß der
Raum ein absolutes Oben und Unten, eine absolute Fallrichtung senkrecht zur
Erdoberfläche hat” (PGW, S.198).
Zu dieser Beschreibung sind
einige Anmerkungen zu machen. Fehling hebt ausdrücklich hervor, daß die Alten
den Himmel als Flachdach und nicht als Halbkugel oder als Käseglocke ansahen
(PGW, S.206). Man stellte sich, wie er sagt, “keineswegs, wie oft geglaubt
wird, den Himmel über uns als Halbkugel vor” (MuW, S.13). Die Vorstellung des
Himmels als eines Flachdaches sei “nicht allein zeitlose Grundlage naiven
Denkens”, sondern auch “ein Element der alten Hochkulturen” (PGW, S.206). Ich
bezweifle, ob es angemessen ist, dies so apodiktisch zu behaupten. Der
ägyptische Hieroglyph für ‘Himmel’ ist eben ein Flachdach mit angedeuteten
Stützen, aber wenn dieses Zeichen in der ägyptischen Kunst Verwendung findet,
dann ist es entweder flach, wie im Ideogramm, oder auch manchmal gewölbt, wie
zum Beispiel in der Stele des Tanetperet
(Paris, Louvre N 3663, Datierung unsicher, aber ungefähr 850 v.Chr.). Andere Beispiele kann man in
der Stele des Sesostris III (Berlin, Ägyptisches Museum und Papyrussammlung,
No.1157, ca.1820 v.Chr., ein richtiger Halbkreis - das älteste mir bekannte
Beispiel), im Totenbuch des Hunefer (ca. 1200 v.Chr.), im Papyrus von Ani (ca. 1400
v.Chr.) und auch an zahlreichen anderen Stellen finden. Mit Blick auf die
Ägypter darf man jedenfalls sagen, daß sie seit Urzeiten das Himmelsdach auch
als Wölbung dargestellt haben. Wenn nun die Ägypter den Himmel als Wölbung, ja
sogar als Halbkugel angesehen haben - warum sollten dann die Griechen eine
andere Sichtweise gehabt haben? Diese Sichtweise hatte doch die Evidenz des
Augenscheins für sich, da man die Himmelskörper am östlichen Horizont aufgehen,
sie dann über den Betrachter hinweglaufen und schließlich am westlichen
Horizont wieder untergehen sah. Charles Kahn, dem Fehling Beifall zollt (MuW,
S.13, Anm.17), bezweifelt, ob bei Homer von einer Halbkugel die Rede ist. Aber
wenn er seine Auseinandersetzung mit den Worten: “Since the surface of the
earth is circular (limited by the Ocean), the shape of its heavenly cover must
of course correspond”abschließt, dann fällt es schwer, sich den homerischen
Himmel anders als eine Art Kuppel, Käseglocke oder Halbkugel vorzustellen.[5] Die Tatsache, daß Homer nirgends
von einer Himmelskuppel spricht beweist nur, daß diese Vorstellung weithin
geläufig war. Auch Hesiods Beschreibung des Himmels und der Erde in der Theogonie kann schwerlich anders
interpretiert werden: “Gaia gebar zuerst an Größe gleich wie sie selber Uranos
sternenbedeckt, damit er sie völlig umschließe”.[6] Die Schritt vom archaïschen zum
neuen Weltbild ist daher, was diesen Punkt betrifft, meines Erachtens weniger
groß, als Fehling denkt. Nicht das Flachdach, sondern das gewölbte Firmament
bzw. die Halbkugel wurden von der Vollkugel abgelöst.
2.
Das Problem des Fallens im ‘primitiven’ Weltbild.
Fehling beschreibt, wie gesagt, das Fallen
im archaischen Weltbild als eine Bewegung, die senkrecht zur Erdoberfläche
verläuft. Diese Beschreibung ist jedoch anachronistisch, da sie eine sich an
einer flachen Erde orientierende Theorie
des Fallens voraussetzt. Es ist keineswegs evident, daß alles Fallen im alten
Weltbild eine absolute Fallrichtung senkrecht
zur Erdoberfläche aufweist. Nur das, was aus dem Stillstand heraus fällt, fällt
senkrecht zu Boden - freilich nur, wenn es hinreichend schwer ist, denn zum
Beispiel für Daunen trifft dies nicht zu. Ein geworfener Stein oder Speer, oder
auch ein abgeschossener Pfeil fallen nicht senkrecht, sondern schräg auf die
Erde, es sei denn, sie wurden senkrecht in die Höhe geworfen oder geschossen. Auch
Regen, Hagel und Schnee fallen nur selten senkrecht vom Himmel herunter. Für
den naiven Betrachter stellt sich alles Fallen relativ zur Erde dar, aber
senkrechter Fall findet nur in Ausnahmesituationen statt. Es ist also für das
naive Weltbild keineswegs gang und gäbe, wie Fehling unterstellt, daß sich
alles Fallen senkrecht zur Erde vollzieht. Zur Beschreibung des Fallens als
senkrechten Vorganges benötigt man eine Theorie, die zwischen einer senkrechten
Fallkraft und einer zusätzlichen, die Bewegung des geworfenen Gegenstandes in
Richtung Aufprall determinierenden Kraft - zwei Kräfte, die im Verein die Bahn
des fallenden Objektes konstituieren - zu unterscheiden gestattet. An dieser
Stelle hätte sich Fehling seiner eigenen Warnung erinnern müssen: “Wir sehen
das nicht, weil wir uns nicht konsequent genug in das natürliche Weltbild des
Menschen hineindenken”, und: “wir projizieren immer wieder Elemente
fortgeschrittenen Wissens in dieses Weltbild hinein” (MuW, S.11 und 12). Desselben
Fehlers macht sich übrigens auch David Furley schuldig, wenn er argumentiert,
daß in einer nicht-zentripetalen Dynamik schwere Körper senkrecht zur Erde
fallen.[7]
Die Frage, warum die Erde
nicht fällt, kann, Fehling zufolge, im archaïschen Weltbild überhaupt nicht
gestellt werden, weil hier ja “die Erdoberfläche die zentrale Bezugsebene des
Raumes überhaupt” ist. “Bei dieser Vorstellung kann alles Fallen nur in Bezug
auf die Erdoberfläche stattfinden” (PGW 212 und 213). Im archaischen Weltbild
besteht, so möchte ich hinzufügen, vielmehr die Befürchtung, daß der Himmel auf
die Erde fallen könnte. Aus diesem Grund hat man sich die mythische Figur des
himmeltragenden Atlas einfallen lassen. Dessen Gegenstück im Bereich des
ägyptischen Weltbildes war der Luft-Gott Shu, der, wie man aus zahlreichen
Abbildungen ersehen kann, die Himmels-Göttin Nut und den Erd-Gott Geb
gegeneinander auf Abstand hält. In anderen Kulturen übt der Himmelsbaum eine
entsprechende Funktion aus. Auch hier darf man aber feststellen, daß die
Aussagen Fehlings zu apodiktisch sind. Schon bei Hesiod ist die Erdoberfläche
nicht mehr der einzige Bezugspunkt des Fallens. In der Theogonie 725 ff. sagt er: “Denn neun Nächte und Tage fällt ein
eherner Amboß, bis er am zehnten Tag vom Himmel zu Erde herabkommt. Und auch
neun Nächte und Tage fällt ein eherner Amboß, bis er am zehnten Tag von der
Erde im Tartaros ankommt”.[8] Somit wird hier nicht nur die
Erdoberfläche, sondern auch der Tartarus als Bezugspunkt des Fallens gedacht. Oder
vielleicht sollte man eher sagen, daß Hesiod das Fallen schlichtweg mit ‘unten’
assoziiert. Fehling zitiert zwar diese Hesiod-Stelle (PGW, S.206), scheint aber
zu übersehen, daß hier ganz offensichtlich nicht nur die Erde als Bezugspunkt
des Fallens fungiert. Wenn ein Amboß nicht nur als auf die Erde fallend,
sondern auch als von der Erde herabfallend gedacht werden kann, ist der Schritt
zu der Frage, warum die Erde selbst nicht fällt, nicht mehr allzu groß. Ich werde
im vierten Abschnitt ein wenig genauer auf die Problematik des Fallens der Erde
eingehen.
3.
Die Differenzen zwischen dem ‘primitiven’
und dem neuen Weltbild.
Gewöhnlich wird die Entdeckung der
Kugelform der Erde als der entscheidende Schritt zum neuen Weltbild angesehen. Für
Fehling ist es vor allem die Himmelskugel, die den Unterschied zwischen dem
alten und dem neuen Weltbild ausmacht. Er unterscheidet zwischen “dem
frühhistorischen Weltbild, das die Himmmelskugel noch nicht kannte, und dem
Weltbild mit Himmelskugel” (PGW, S.208). “Drei umwälzende Entdeckungen führen
vom primitiven Weltbild zum heutigen: Die Himmelskugel, die Kugelform der Erde,
und die Drehung der Erde um die Sonne” (MuW, S.11). Von der erstgenannten
Entdeckung behauptet er, “daß dieser Schritt der größte und schwerste gewesen
ist” (ibid.). Auch hier möchte ich das von Fehling gezeichnete Bild leicht
korrigieren.. Erstens stimmt es nicht, daß die Entdeckung der Himmelskugel den
Übergang vom archaischen zum heutigen Weltbild
markiert, denn nach dem heutigen Weltbild gibt es gar keine Himmelskugel.[9] Die Himmelskugel is daher bei
Aristoteles keine Entdeckung. Wie
sollte sie dies auch sein, da es ja so etwas wie ein Himmelskugel nicht gibt? Wie
wir noch näher sehen werden, ist die Himmelskugel eine notwendige Bedingung für
die Lösung des Problems, welches das Fallen ergibt, wenn man von einer
zentral-situierten Erde ausgeht. Nachdem Kopernikus die Erde aus dem Zentrum
des Kosmos entfernt und Newton eine neue Lösung des Problems des Fallens
präsentiert hatte, löste sich die feste Himmelskugel des
aristotelisch-ptolemäischen Systems in Wohlgefallen auf.
Es handelt sich, zweitens,
beim Übergang vom archaïschen zum neuen Weltbild nicht so sehr um die
Entdeckung der Himmelskugel (diese war eher eine Konstruktion als eine
Entdeckung), sondern um die Einsicht, daß die Himmelskörper vollständige Kreise
um die Erde herum beschreiben. Diese Einsicht ist dokumentiert, denn sie
beinhaltet genau das, was die Vorstellung der Himmelskörper als Räder in der
Doxographie Anaximanders besagen will.[10] Der Gedanke, daß die Himmelskörper
vollständige Kreisbewegungen vollziehen und daher unter der Erde durchlaufen,
ist deswegen so revolutionär, weil sie konsequenterweise zu der Vorstellung der
frei im Raum schwebenden Erde führt, wie Fehling selbst deutlich erkennt: “denn
auf die im Raum schwebenden Erde kommt man erst dadurch, daß man die
Gestirnbahnen als Kreise erkennt, die sich unter dem Horizont schließen” (MuW,
S.145-146). Nur ist sein Schluß: “Und damit ist man schon bei der Himmelskugel”
(ibid.) vorschnell. Das hängt mit einem Punkt zusammen, der von Fehling (und
übrigens vom fast allen mit diesem Thema befaßten Autoren) übersehen wird und
den ich nun (leider in gebotener Kürze) hervorheben möchte.
Es gibt einen
anderen, wichtigen Unterschied zwischen dem archaischen und dem späteren
Weltbild, der viel zu wenig Beachtung gefunden hat, und den man mit Ausdrücken
wie ‘Tiefe’ oder ‘Perspektive’ bezeichnen kann. Die Astronomie der primitiven
und archaischen Kulturen ist ausschließlich deskriptiv orientiert. Man
beschreibt die Bewegungen der Himmelskörper am Firmament. Man beobachtet und
protokolliert zum Beispiel, wann die Plejaden im frühen Morgenlicht sichtbar
werden, oder wie die Planeten, die Sonne und der Mond sich zwischen den Sternen
bewegen. Wenn man all dies jahrelang observiert hat, ist man gewiß in der Lage,
Ereignisse am Himmelsgewölbe vorauszusagen. Daher sind diese Beobachtungen
hilfreich beim Erstellen des Kalenders oder beim Konzipieren von astrologischen
Voraussagungen. All dies geschieht im Rahmen der naiven Vorstellung, die
Himmelskörper befänden sich alle in gleichem Abstand von der Erde. Man
vergleiche dies mit dem, was man in einem modernen Planetarium zu sehen
bekommt, wo die Himmelskörper alle in gleicher Distanz auf die Kuppel des
Gebäudes projiziert werden.
Erst die griechische
Astronomie hat die Tatsache ins Auge gefaßt, daß die Himmelskörper sich in
verschiedenen Entfernungen zur Erde befinden. Wir haben es diesbezüglich mit
einer ganz entscheidenden Einsicht zu tun, denn es handelt sich hier nicht um
ein Phänomen, das gesehen werden
kann. Wir können nicht sehen, daß
sich die Himmelskörper in verschieden großen Abständen von uns befinden. Das
Beispiel der an die Kuppel des Planetariums projizierten Gestirne illustriert
dies hinreichend. Der Einwand, die verschiedenen Entfernungen der Himmelskörper
ließen sich aus dem Phänomen der Sternbedeckungen schließen, beruht auf einer petitio principii. Da wir wissen, daß die Himmelskörper
hintereinander stehen, können wir sagen, daß zum Beispiel der Mond einen Stern
verdeckt. Die Entdeckung, daß die Himmelskörper sich nicht alle in gleicher
Entfernung von der Erde befinden, war eine Leistung der Einbildungskraft. Dasjenige,
worum es sich hier handelt, pflege ich ‘die Entdeckung des Raumes’ zu nennen. Die
Doxographie führt diese Entdeckung, wiederum, auf Anaximander zurück. Er hat
als erster Zahlen für die verschieden Distanzen der Himmelskörper angegeben.[11] Anaximander hat, laut Doxographie,
die Reihenfolge der Himmelskörper als (von der Erde aus gesehen): Sterne, Mond,
Sonne bestimmt.[12] Das heißt, daß ihm die Vorstellung
einer Himmelskugel fernlag. Diese gehört ja zu einem Universum, in dem die
Sterne am weitesten von der Erde entfernt sind. Die Einsicht, daß die
Himmelskörper vollständige Kreise beschreiben, stellt daher etwas anderes dar
als die Hypothese der Himmelskugel.
Anstatt der von Fehling hervorgehobenen “drei
umwälzenden Entdeckungen”, die den Übergang vom archaischen zum neuen Weltbild
prägen sollten (Die Himmelskugel, die Kugelform der Erde, und die Drehung der
Erde um die Sonne - siehe zu Anfang dieses Abschnitts), möchte ich die
folgenden Charakteristiken des neuen Weltbildes aufführen: (1) die Bahnen der
Gestirne laufen auch unter der Erde durch und bilden vollständige Kreise, (2)
die Erde schwebt, ohne jegliche Abstützung, im Zentrum des Universums, und (3)
Die Himmelskörper befinden sich in verschiedenen Entfernungen von uns. Hinzu
kamen später die Kugelgestalt der Erde, die Himmelskugel (nach Berichtigung der
Reihenfolge der Himmelskörper), und die Achsendrehung der Erde.
4.
Das Problem des Fallens und die Lösung von Aristoteles
Das Problem des Fallens hat, wie gesagt,
im archaïschen Weltbild mit der Gefahr
zu tun, der Himmel könnte auf die Erde herabstürzen. Das Problem bleibt, in
etwas anderer Fassung, im anaximandrischen Weltbild bestehen. Wenn man sich die
Gestirne als Körper vorstellt, welche die Erde in vollständigen Kreisen
umrunden, dann stellt sich die Frage: warum fallen die Himmelskörper nicht auf
die Erde? Der Gedanke liegt nahe, daß die auf den ersten Blick merkwürdig
anmutenden Äusserungen in der Doxographie Anaximanders über die Gestalt der
Himmelskörper mit diesem Problem zu tun haben. Er soll sich die Himmelskörper
als gigantische, mit Feuer gefüllte Räder gedacht haben, in denen ein Loch das
sichtbare Gestirn bildet.[13] Man kann sich leicht vorstellen,
daß ein solches Rad, das überal dieselbe Entfernung zur Erde hat, keinen Anlaß
zum Fallen aufweist. Aus entsprechendem Grunde sind im aristotelischen System
die Himmelskörper an feste Kugelschalen geheftet. Wenn die Gestirne frei
schwebende Körper wären, dann könnten sie ja auf die Erde stürzen. Daher gibt
sich Aristoteles (Meteorologica
344b32) Mühe zu zeigen, daß der Stein, welcher im Jahre 468 in Aigospotamoi vom
Himmel gefallen war, nicht von einem Himmelskörper stammte.
Das neue und gewichtige
Problem, welches sich im neuen Weltbild stellte, bestand in der Frage, warum
die Erde nicht fällt, die ja durch nichts abgestützt war. Aristoteles legt
Anaximander das berühmte Symmetrie-Argument in den Mund: “Es gibt aber auch
Denker, die behaupten, die Erde bliebe wegen eines gewissen Gleichgewichts an
ihrem Platze, unter den Alten z.B. Anaximandros. Denn bei einem Körper, der in
die Mitte gebettet sei und zu allen Teilen des Randes sich gleich verhalte,
bestehe kein Grund, warum er eher nach oben oder unten oder nach der Seite
stürze (….). Er müsse also in Ruhe bleiben”.[14] Sehr zurecht legt Fehling dar, daß
Aristoteles hier zwar Anaximander nennt, aber de facto gegen Platon polemisiert, der im Phaedo dasselbe Symmetrie-Argument anwendet. Er hat auch Recht wenn
er behauptet, daß das Symmetrie-Argument die Himmelskugel voraussetzt. Und
schließlich ist ihm zuzustimmen, wenn er feststellt, daß das Argument in dieser
Form nicht Anaximander zugeschrieben werden kann, da er die Himmelskugel nicht
kannte. Ich bin mit Fehling völlig einer Meinung, wenn er sagt: “Aristoteles
hat das Symmetrie-Argument bei Anaximander nur erschlossen’ (PGW, S.221).
Fehling zufolge geht es
Aristoteles in De caelo “nicht um den
Weltbau (….), sondern nur um die Frage, warum die Erde nicht fällt” (PGW,
S.224). Das trifft jedenfalls für die Kapitel xiii und xiv des zweiten Buches
zu. Aristoteles hat eine geniale Theorie des Fallens entworfen, die mehrere
Jahrhunderte lang standgehalten hat. Er war sich darüber im Klaren, daß er für
diese Theorie ein deutlich definiertes ‘Unten’ und ‘Oben’ benötigte, und daß
dergleichen in einem als unendlich gedachten Raume nicht vorkommt. Darum mußte
es die Himmelskugel der Fixsterne geben, welche die Peripherie des Universums
bildet. Nun waren ‘Oben’ als die Peripherie und ‘Unten’ als Zentrum des
Universums gegeben. In diesem Universum hat alles seinen natürlichen Ort: Das
Leichte oben (an der Peripherie) und das Schwere unten (im Zentrum). Da nun
‘Erde’ das schwerste Element ist, strebt es zum Zentrum hin. Und so bildet sich
die Erde, die im Zentrum des Universums ruht, und die natürlicherweise
ebenfalls eine Sphäre sein muß, denn die Sphäre ist die räumliche Figur, in der
alle Teile die kleinstmögliche Entfernung zum Zentrum aufweisen. So entsteht
das aristotelische Bild der Welt: Erdkugel in Himmelskugel. Das Fallen ist bei
Aristoteles nicht nur das Problem, sondern auch dessen Lösung: Wenn man das
Phänomen des Fallens versteht, dann sieht man auch ein, warum die Erde nicht
fällt.
Die Himmelskugel war, wie
gesagt, keine Entdeckung. Ich möchte
sagen: Es handelte sich bei Aristoteles nicht um eine Angelegenheit der
Erfahrung, sondern um eine metaphysische Notwendigkeit.[15] Somit sind es auch nicht empirische
Gründe, die für Aristoteles bei der Frage nach der Gestalt der Erde den
Ausschlag gaben, was auch Fehling leider bisweilen zu denken scheint (z.B. PGW,
S.201). Die empirischen Beweise für die Kugelgestalt der Erde sind in De caelo eine Art Zugabe, nachdem die
eigentliche, metaphysische Notwendigkeit zum Tragen gekommen war. Was Fehling
in diesem Zusammenhang über Eudoxos sagt: “Die Beweise sind offenbar erst
nachträglich gesucht und gefunden” (PGW 219), trifft auch auf Aristoteles zu.
5.
Die Stellung Anaximanders in der geschichtlichen Entwicklung.
Wenn wir uns nun abschließend nochmals
Anaximander zuwenden, dann sind zunächst einige methodologische Vorbemerkungen
erforderlich. Von Anaximanders Buch ist uns leider nur eine einzige
Originalstelle erhalten geblieben, nämlich die wenigen Zeilen des berühmten
Fragments DK 12B1. Alles, was wir über seiner Kosmologie oder Astronomie in
Erfahrung bringen können, stammt aus der Doxographie. Die übliche Auffassung
lautet, daß man beim Studium der Präsokratiker von den Originaltexten ausgehen
und die Doxographie nur mit äußerster Vorsicht heranziehen soll. An sich ist
das natürlich eine richtige Maxime. Im Falle der Astronomie Anaximanders würde dies
bedeuten, daß wir nicht in der Lage sind, zu diesem Thema etwas Sinnvolles
auszusagen. Dies ist dann auch Fehlings Standpunkt (MuW, § 17; PGW,
S.222). Ich bin jedoch der Meinung, daß
eine allzu größe Skepsis zu nichts führt. Die Doxographie geht größtenteils auf
Aristoteles und Theophrast zurück, die noch selbst die Arbeiten der
Präsokratiker gelesen haben könnten.[16] Was Anaximanders Buch betrifft, so
wird erzählt, daß Apollodor von Athen, im zweiten Jahrhundert nach Christus ein
Exemplar in die Hände bekam, vielleicht in der Bibliothek von Alexandrien.[17] Diese Mitteilung hat seit einem
Fund jüngeren Datums in Taormina an Glaubwürdigkeit gewonnen, wo ein Fragment
des Katalogs der Bibliothek des dortigen Gymnasiums auftauchte, auf welchem
u.a. der Name Anaximanders zu lesen ist. Seitdem dürfen wir annehmen, “daß der
Text des (…) Anaximander von Milet in
einem hellenistischen Gymnasion auf Sizilien noch im 2.Jh. v.Chr. präsent war”.[18] Man kann also annehmen, daß
Aristoteles, Theophrast und vielleicht andere, denen Anaximanders Buch unter
die Augen gekommen war, dasjenige, was sie in den Schriften der Vorsokratiker
als wichtig betrachteten, wiedergegeben haben, wenn sie es auch durch die
Brille ihrer jeweils eigenen Philosophie betrachtet haben. Da, wo wir kontrollieren können (nämlich bei Präsokratikern, von denen
relativ viele Originaltexte erhalten sind), können wir feststellen, daß die
Doxographie im Allgemeinen und unter dem Vorbehalt subjektiver Färbung eine
recht getreue Wiedergabe des Denkens dieser Philosophen zu bieten hat.[19]
Dies soll natürlich nicht heißen, daß jede
Mitteilung der Doxographie ohne weiteres als zuverlässig anzusehen ist. Ein
wichtiges Kriterium liegt darin, daß wir uns immer vor der Gefahr einer
anachronistischen Interpretation hüten müßen, sowohl bei den Doxographen als
auch bei uns selbst. Was die Doxographie über die Astronomie Anaximanders
speziell angeht, so möchte ich noch als weiteres Kriterium hinzufügen, daß sie,
bei sorgfältiger Lektüre, einer kohärenten und sinnvollen Deutung keinen
Widerstand entgegensetzt. D.h. daß sie eine plausible Interpretation der am
Himmel zu beobachtenden Phänomene, wie sie dem Betrachter auf einer als flach
gedachten Erde erscheinen, ermöglichen muß. Um zu zeigen, daß es möglich ist,
sich eine diesem Kriterium genügende Vorstellung von der Astronomie
Anaximanders zu verschaffen, gehe ich im Folgenden noch kurz auf die
wichtigsten Punkte der anaximandrischen Astronomie ein, wie sie uns aus der
Doxographie entgegentritt.
Anaximander betrachtet die Himmelskörper
als mit Feuer gefüllte und aus Luft bestehende Räder, in denen ein Loch das
jeweils sichtbare Gestirn bildet.[20] Dieses Bild veranschaulicht die
erste große Einsicht Anaximanders, nämlich daß die Bahnen der Gestirne
vollständige Kreise darstellen und also auch unter der Erde durchlaufen. Anaximanders
Räder sind demnach mit den täglichen Umlaufbahnen der Himmelskörper
gleichzusetzen. Zudem garantieren die Räder, wie gesagt, daß die Himmelskörper
nicht auf die Erde fallen.
Das Licht der
Gestirne gelangt zu uns durch die Löcher in ihren Rädern hōsper dia prēstēros
aulou oder hoion prēstēros aulon.[21] Diese Worte werden seit Hermann Diels als “wie (durch) die Röhre eines
Blasebalgs” wiedergegeben.[22] Neulich ist argumentiert worden,
daß diese Übersetzung jeglicher Grundlage entbehrt, und daß man hier besser, im
Einklang mit den mittelalterlichen Arabern, einen Vergleich mit dem Phänomen
des Blitzes herauslesen sollte.[23]
Daß die Gestirne vollständige
Kreisbewegungen vollziehen, führt unentrinnbar zu dem Schluß, daß die Erde frei
im Raum schwebt.[24] Dies war die zweite große Einsicht
Anaximanders. Allerdings ist man damit, wie gesagt, noch nicht bei der
Himmelskugel angelangt, wie Fehling allzu schnell folgert.
Anaximanders Erde hat die Gestalt eines
flachen Zylinders, genauer einer Säulentrommel[25]. Diese Gestalt ist für
jemanden naheliegend, der, wie Anaximander, die Kugelform der Erde noch nicht
kennt und doch die Erde frei im Raum schweben läßt. Die Mitteilung des Diogenes
Laërtius, die Erde Anaximanders sei eine Sphäre,[26] ist anachronistisch. Er hat sie
wahrscheinlich, wie Fehling (MuW 146) vermutet, aus dem Symmetrie-Argument, d.
h. aus Aristoteles’ De caelo,
erschlossen.
Gemäß der Rekonstruktion von Diels und
anderen[27] dachte sich Anaximander die Räder der
Himmelskörper wie folgt: Die Sterne seien neun, der Mond sei achtzehn, und die
Sonne sei siebenundzwanzig Erd-Diameter von der Erde entfernt. Daß die
Himmelskörper nicht alle im selben Abstand am Himmelsgewölbe befestigt sind,
sondern daß sie sich in verschiedenen Entfernungen von der Erde befinden, ist
Anaximanders dritte große Einsicht. Er imaginierte Tiefe im Universum und ist
daher, wie ich es gerne ausdrücke, der Entdecker des Raumes. Weil die Ziffer
neun (=3x3) im griechischen Zahlensystem soviel bedeutet wie ‘viel’, ‘groß’,
oder auch ‘fern’, sind die Zahlen Anaximanders einfach als ein für seine
Landsleute sofort verständlicher Ausdruck dieser Einsicht[28] zu deuten: Die Sterne sind weit entfernt
(1x3x3), der Mond ist noch weiter entfernt (2x3x3), und die Sonne ist am
weitesten entfernt (3x3x3).
In der Doxographie wird berichtet, daß
Anaximander einen Himmelsglobus angefertigt habe.[29] Dies ist schon deswegen, weil er
die Himmelskugel nicht kannte, kaum vorstellbar. Man kann sich jedoch sehr wohl
vorstellen, daß er eine Art Grundriß seines Universums gezeichnet hat, mit der
Erde im Zentrum und den konzentrischen Rädern der Gestirne ringsum. Die Zahlen sind sodann ergänzend als
geometrische Konstruktionsvorschriften zu deuten: “Man nehme einen Zirkel und
beschreibe damit einen kleinen Kreis, das ist die Erde. Ihren Durchmesser
nennen wir eine Einheit oder Modul. Nun positioniere man den einen Schenkel im
Zentrum, messe mit dem anderen Schenkel neun Einheiten ab und beschreibe einen
neuen Kreis. Das ist die Innenseite des Sternrads, usw.usf.”
Der Rekonstruktion zufolge
müßte jedes Rad einen Erd-Diameter breit sein. Dies ist die einfache Erklärung
der doxographischen Mitteilung, daß Anaximander sich die Sonne als ebenso groß
wie die Erde vorgestellt hat.[30] Auch diese Mitteilung ist als eine
Art Konstruktionsvorschrift zu deuten, wurde jedoch später als Aussage über die
Größe der sichtbaren Sonne, d.h. des Loches im Sonnenrad, mißverstanden.
Die Reihenfolge der Himmelskörper ist bei
Anaximander umgekehrt (von der Erde aus gesehen: Sterne, Mond, Sonne).[31] Zwar wurde gelegentlich die
Auffassung vertreten, daß sie richtig hätte sein können, wenn er das Phänomen
der Sternbedeckung in Rechnung gestellt hätte,[32] aber diese Kritik ist anachronistisch; sie
beruht, wenn man so will, auf einer petitio
principii. Wir können nicht sehen,
daß Himmelskörper verschieden weit von uns entfernt sind. Wir sprechen von
einer Sternbedeckung, weil wir wissen,
daß uns der Mond näher steht als der jeweilige Stern. Wenn man dies jedoch
nicht weiß und, wie Anaximander, davon ausgeht, daß die Reihenfolge der
Gestirne der zunehmenden Helligkeit entspricht, dann kann man eben dieses
Phänomen auch anders deuten, nämlich als Überstrahlung des schwächeren Lichtes
durch das stärkere.
Der doxographische Bericht, Anaximander
habe die Ekliptik gekannt (oder ‘entdeckt’),[33] ist ebenfalls anachronistisch und falsch,
da ‘Ekliptik’ ein Begriff ist, der die Kugelform der Erde und des Himmels
voraussetzt. Wenn ein anderer Bericht lautet, die Räder der Himmelskörper seien
schief,[34] dann ist dies also nicht als Hinweis auf
die Ekliptik zu verstehen. Wenn man jedoch die Räder, wie angedeutet, als die
täglichen Umlaufbahnen der Himmelskörper auffaßt, dann ist die Schiefe der
Räder das Korrelat der Senkung der Himmelsachse, um welche die Räder sich
drehen.
Man kann also die Berichte der Doxographie
so lesen, daß sie ein kohärentes und sinnvolles Ganzes bilden, welches zudem
ein Bild ergibt, das mit den Himmelserscheinungen zu vereinbaren ist. Es ist
somit auch möglich, Anaximanders Universum, wie es sich aus der Doxographie
ergibt, zu visualisieren, und zwar nicht nur als zweidimensionale (wie bei
Diels' Zeichnung), sondern sogar als dreidimensionale Repräsentation.[35]
Die drei großen Einsichten
Anaximanders, mit denen er das archaische Weltbild sprengte: daß die
Himmelskörper vollständige Kreise durchlaufen, daß die Erde frei im Raum
schwebt, und daß die Himmelskörper hintereinander stehen, machen ihn zum
Entdecker des Raumes. Ihre Bedeutung entspricht derjenigen eines
Paradigmenwechsels. Keine der drei Einsichten bezieht sich auf Phänomene, die
er sehen konnte. Die Einsichten
Anaximanders sind Produkte der Einbildungskraft.
Einbildungskraft nun unterscheidet sich erheblich von bloßer Phantasie, welche
bereits Bekanntes in nicht vorherzusehender Weise miteinander verknüpft. Die
kreative Einbildungskraft ordnet bekannte empirische Daten einem neuen Schema,
einem neuen Paradigma ein. Bei Anaximander handelt es sich jedoch nicht um ein
Sammeln von Erfahrungsmaterial, also um Erkenntnis observational-präsenter
Faktizität, sondern um Einsichten, die neue Erkenntnisse im Bereich empirischer
Forschung erst ermöglichen. In diesem Sinne bin ich der Meinung, daß auf
Anaximander genau das zutrifft, was Fehling offenbar verwirft, nämlich “daß
große Erkentnisse durch kühne theoretische Gedankenspiele philosophischer
Geister gewonnen werden” (PGW, S.196). Anaximander betrieb nicht deskriptive
(wie z.B. die Babylonier), sondern spekulative Astronomie. Er ist der Urheber
des westlichen Weltbildes, das sich von den Weltbildern aller anderen Kulturen
wesentlich unterscheidet.
Ich bestreite, daß Anaximander, wenn man
ihn so versteht wie ich, “historisch völlig isoliert und unmöglich” sei (PGW,
S.222). Die zylindrische Gestalt der Erde, die unzutreffende Reihenfolge der
Gestirne, seine Auffassung der Himmelskörper als Räder, die nur symbolisch
angedeuteten Abstände der Himmelskörper, seine Unbekanntheit mit der Ekliptik
und der wahren Natur der Sonnen- und Mondfinsternisse - dies sind
‘Fehlleistungen’, welche spätere Forschung im Rahmen des neuen Paradigmas zu
berichtigen hatte. Daß das von ihm entworfene neue Weltbild nicht sofort von
jedermann akzeptiert wurde (z.B. nicht von Anaximenes), kann nicht allzusehr
verwundern, wenn man sich vergegenwärtigt, wie gewaltig die Erschütterung gewesen
sein muß, welche die Sprengung des archaischen Weltbildes hervorgerufen hat. Mit
ähnlichem Unglauben und Widerstand wurde später Kopernikus konfrontiert, als er
seinen Zeitgenossen klar zu machen versuchte, daß nicht die Sonne sich um die
Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne.
Mit der frei schwebenden
Erde ist noch nicht ihre Kugelgestalt, und mit den konzentrischen Rädern ist
noch nicht die Himmelskugel gegeben. Mit diesen Einsichten war jedoch das
Firmament, das Himmelsdach bzw. die Himmelskuppel des archaischen Weltbildes
zerstoben. Was auch immer Anaximander mit seinem apeiron gemeint haben
könnte - er hat damit jedenfalls die Möglichkeit der Spekulation über einen
unendlichen Raum (mit vielleicht unendlich vielen Welten), in welchem die Erde
ungestützt schwebt, geschaffen. Mit der frei schwebenden Erde und den
Himmelsrädern war ja dem Problem des Fallens der Erde nicht mehr zu entrinnen. Die
Frage, warum die Erde nicht fällt, dürfte gewiß für Anaximander ein Problem
gewesen sein, denn dies war vermutlich die erste Frage, die ihm seine Mitbürger
gestellt haben. Leider wissen wir nicht, wie seine Antwort gelautet hat.
Vielleicht hat das Bild der Erde als eines Körpers inmitten der konzentrischen
Himmelsräder eine Reflexion veranlaßt, in die Aristoteles das
Symmetrie-Argument hineingelesen hat. Jedenfalls war mit Anaximanders Bild des
Universums die Problematik entstanden, welche Aristoteles in De caelo beschäftigt hat. Um das von
Anaximander auf die Tagesordnung gesetzte Problem des Fallens der Erde zu
bewältigen und die Unendlichkeits-Spekulation zu unterdrücken, benötigte
Aristoteles sowohl die Himmelskugel als auch die Kugelgestalt der Erde.
[1] An dieser Stelle möchte ich Dr.Joachim Aul, der
das Manuskript sorgfältig gelesen und viele Verbesserungen vorgeschlagen hat,
meinen Dank wissen.
[2] Siehe auch z.B.: F.Boquet, Histoire de l’astronomie, Paris 1923,
S.35: “Les idées d’Anaximandre sont tellement bizarres qu’on hésite à les
reproduire”; D.R.Dicks, Early Greek Astronomy
to Aristotle, Ithaca and New York 1970, S.46: “the unsatisfactory nature of the evidence, which is garbled and
contradictory and has to be interpreted with arbitrary selectivity if a
coherent account is to be obtained, makes it highly doubtful whether it has any
historical worth”; und sogar C.H.Kahn, Anaximander
and the Origins of Greek Cosmology.
[3] Die Schriften Fehlings werden wie folgt
zitiert: ‘Das Problem der Geschichte des griechischen Weltmodells vor
Aristoteles’, Rheinisches Museum für
Philologie 128 (1985), S.195-232 (PGW); Materie
und Weltbau in der Zeit der frühen Vorsokratiker, Innsbruck 1994 (MuW); Die sieben Weisen und die frühgriechische
Chronologie, Bern etc. 1985 (SW).
[4] Siehe: Dirk.L.Couprie, ‘The
Discovery of Space: Anaximander’s Astronomy”, in: Dirk L.Couprie, Robert Hahn
and Gerard Naddaf, Anaximander in
Context. New Studies in the Origin of Greek Philosophy, Albany 2003,
S.165-254.
[5] Kahn, o.c., S.138, Anm.1.
[6] Hesiod, Theogonie, Z.126-127, meine Übersetzung. Ich folge hier F.Solmsen (Hesiodi Theogonia Opera
et Dies Scutum,
Oxford 1983), der liest: hina
min peri pasan eergoi. A.von Schirning (Theogonie,
Darmstadt 1991) hat: hina min peri panai
kaluptoi und übersetzt: “damit er sie völlig umhülle”.
[7] D.J.Furley,
Cosmic Problems,
[8] Hesiod, Theogonie, Z.722-225. Ein fallender Amboß ergibt offenbar die
höchste Geschwindigkeit, die Hesiod sich vorstellen kann. Er rechnet daher mit
‘Amboß-Tagen’, wie wir mit Lichtjahren.
[9] Auch in MuW, S.12 und 144, spricht
Fehling ungenau von der Entdeckung
der Himmelskugel. Die Himmelskugel ist eine Hypothese,
wie Fehling an anderer Stelle korrekt sagt (PGW, S.207, 218, 231).
[10] Für die Vorstellung der Himmelskörper als
Räder, siehe: H.Diels und W.Kranz, Die
Fragmente der Vorsokratiker. Zürich und Hildesheim 1951-526
(=DK) 12A11, 12A18, 12A21 und 12A22.
[11] Siehe DK 12A11, 12A18, 12A21 und 12A22.
Simplicius sagt ausdrücklich: “Wie Eudemus berichtet, war Anaximander der erste
der hinsichtlich dieser Maße und Distanzen zur Einsicht gelangte”. (DK 12A19).
[12] Siehe: DK 12A11 und 12A18.
[13] Siehe Anm. 10.
[14] De caelo 295b10 ff. = DK12A26. Übersetzung von
Paul Gohlke, Paderborn 1958.
[15] “In his general conception of the
Kosmos, Aristotle is guided by purely metaphysical arguments”. J.L.E.Dreyer, A History of Astronomy from Thales to Kepler,
[16] Fehling zitiert mit Zustimmung Olaf
Gigon: “Mit gutem Grund ist vermutet worden, daß erst Aristoteles die Schriften
der beiden Milesier (sc. Anaximander und Anaximenes) ausgegraben hat” (SW,
S.65).
[17] Siehe DK 12A1.
[18] Über den Fund in Taormina, siehe:
H.Blanck, ‘Anaximander in Taormina’, Mitteilungen
des deutschen archäologischen Instituts (römische Abteilung), 104 (1997),
S.507-511; das Zitat steht auf S.511. Vgl. auch vom selben Verf.: ‘Un nuovo
frammento del ‘catalogo’ della biblioteca di Tauromenion’, La Parola di Passato, 52 (1997), S.241-255.
[19] Das trifft also nicht für Thales zu, da
es keine Schrift von ihm gab. Mit Recht behauptet Fehling, daß wir von Thales
nicht mehr wissen, “als daß er eine historische Persönlichkeit war, von der
Herodot irgendetwas wußte (…). Aus der Geschichte der griechischen
Kosmologie (…) ist Thales zu streichen”
(SW, S.65). Wo keine Schrift vorliegt, hat die Doxographie keinen Anhaltspunkt
und ist daher prizipiell unzuverlässig.
[20] Siehe Anm. 10.
[21] Siehe DK 12A21 und 12A22.
[22] Diese Übersetzung geht zurück auf eine Notiz in H.Diels’
Doxographi Graeci. Berlin 1879, S.26:
“immo Bk0FJZk est follis fabrorum”. Vgl. auch:
H.Diels, “Über Anaximanders Kosmos”. Archiv
für Geschichte der Philosophie 10 (1897), S.229: “das Mundstück eines Blasebalges”.
[23] Siehe: D.L.Couprie, “prēstēros
aulos revisited”. Apeiron 34 (2001), S.193-202. Vgl. H.Daiber, Aetius Arabus. Die
Vorsokratiker in arabischer Überlieferung, Wiesbaden 1980, S.155: “Das Feuer tritt aus
einer Mündung von ihr (in gleicher Weise) zutage, wie die Blitze erscheinen.”
[24] Siehe: DK 12A2, 12A 11 und 12A26.
[25] Siehe: DK 12A10, 12A11 und 12A25.
[26] Siehe: DK 12A1.
[27] P.Tannery, Pour l’histoire de la science hellène: de Thalès à Empédocle. Paris 1887, S.94-95; H.Diels, “Über
Anaximanders Kosmos”. Archiv für
Geschichte der Philosophie 10 (1897), S.228-237; I.M.Bodnár,. “Anaximander’s
Rings”. Classical Quarterly 38
(1988), S.49-51.
[28] So dauerte die Belagerung Trojas 9 Jahre,
irrte Odysseus 9 Jahre herum, und fiel Hesiods Amboß 9 Tage.
[29] Siehe: 12A1. Vgl. auch
Plinius, Nat. Hist.
VII.56.203, “Anaximander von Miletus erfand den Globus in der Astrologie”
(nicht in DK).
[30] Siehe: DK 12A21.
[31] Siehe: DK 12A11 und 12A18.
[32] Vgl. z.B.: J.L.E. Dreyer, A History of Astronomy from Thales to Kepler.
New York 1953 (Neudruck in Faksimile von:
History of the Planetary Systems
from Thales to Kepler. Cambridge
1905), S.14; F.Boll, Kleine Schriften zur
Sternkunde des Altertums. Leipzig 1950, S.257; D.R.Dicks, Early
Greek Astronomy to Aristotle. Ithaca and New York 1970, S.226 Anm.51.
[33] Siehe: DK 12A5.
[34] Siehe: DK 12A22.
[35] Die zugehörigen Bilder sind bequem zugänglich
in meinem Artikel ‘Anaximander’ in The
Internet Encyclopedia of Philosophy, hrsg.
v. J.Fieser und B.Dowden,
http://www.utm.edu/research/iep.